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Interview mit Dr. Handan Çaglayan und Dr. İclal Ayşe Küçükkırca: "„Niemand kann Frauen heute mehr sagen, sie sollen einfach zu Hause bleiben“



„Niemand kann Frauen heute mehr sagen, sie sollen einfach zu Hause bleiben“

Handan Çaglayan und Iclal Ayse Küçükkirca forschen am Institut für Asien- und Afrikastudien der HU. Im vergangen Jahr ist ihre Anthologie „Frauenbewegungen in der Türkei - Eine historische und intersektionale Perspektive“ im Berliner Orlanda Verlag erschienen. Sie beleuchtet die Arbeit türkischer Wissenschaftlerinnen, Anwältinnen und Aktivistinnen, die historischen Fakten der Frauenbewegung in der Türkei, die Vielfalt der feministischen Bewegungen insgesamt sowie die derzeitige politische Situation. Der Fokus liegt auf die Entwicklungen in den 2000er Jahren. Im Interview sprechen die beiden Forscher:innen zu Entstehung und Inhalten des Buches.
Alternativtext

Handan Çaglayan und Iclal Ayse Küçükkirca,
Foto: Orlanda Verlag

Sie haben eine Anthologie zum Thema Frauenbewegungen in der Türkei veröffentlicht, mit zwölf Essays türkischer Wissenschaftlerinnen, Juristinnen und Aktivistinnen. Wie kam es dazu?

Handan Çaglayan: Wir arbeiten seit 2020 an der Humboldt-Universität. Unser Interesse für die Frauenbewegung in der Türkei ist nicht nur wissenschaftlich, wir waren auch beide aktiv darin. Das Buch basiert auf der gleichnamigen Konferenz, die wir 2021 organisiert hatten. Auf ihr kam es zu sehr langen und tiefen Gesprächen und wir erkannten, dass noch mehr Diskussionsbedarf bestand. Daher beschlossen wir, diese Konferenz zu einem Buch zu machen.

Welche Fragen haben Sie besonders interessiert?

Iclal Ayse Küçükkirca: In den frühen 2000er Jahren war die Frauenbewegung sehr stark und es gab mehr Interaktion zwischen verschiedenen Frauengruppen. Sie haben Koalitionen und Plattformen gegründet und gemeinsam wichtige Arbeit im Rahmen gemeinsamer Ziele geleistet. Aber seit den 2010er Jahren hat sich viel verändert. Es gibt eine schwere Unterdrückung der Frauenbewegung, und ihre Errungenschaften sind nun bedroht. Wir wollten diskutieren, wie sich diese Unterdrückung auf die Zusammenarbeit verschiedener Frauengruppen auswirkt und auf die Bedingungen des Widerstands.

Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Handan Çaglayan: Frauen gehören derzeit zu den wichtigsten Antreiber:innen des gesellschaftlichen Widerstands gegen den zunehmenden Autoritarismus. Die Frauenbewegung basiert auf einer bedeutenden historischen Erfahrung und ist immer noch sehr lebendig. Daher ist es trotz der Repression nicht möglich, diese Bewegung zu unterdrücken. Das heißt aber nicht, dass der Druck keine Wirkung gezeigt hat. Die zunehmende Unterdrückung hat die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Frauengruppen verringert. Besonders die Gruppen in verschiedenen Städten, die vor 2010 miteinander in Kontakt standen, sind heute stärker voneinander getrennt. 

Was hat Sie besonders überrascht?

Iclal Ayse Küçükkirca: Für uns war die Konferenz ein außergewöhnliches Erlebnis. Stellen Sie sich vor, religiöse Frauen, kurdische Frauen, radikale Feministinnen, muslimische Feministinnen und feministische Akademikerinnen kommen alle zusammen und diskutieren! Sie alle haben einander zugehört. Das war sehr wichtig und ein Zeichen der Reife der Frauenbewegung. Das Buch spiegelt die unterschiedlichen Perspektiven wider. 

Die Türkei kam in der Vergangenheit wegen der hohen Zahl an Femiziden in die Schlagzeilen. Vor welchen besonderen Herausforderungen steht die Frauenbewegung in der Türkei heute

Handan Çaglayan: Es gibt so viele. Die Gewalt gegen Frauen ist so groß, dass man das, was in der Türkei geschieht, als Massaker an Frauen bezeichnen kann. Zweitens gibt es einen systematischen Angriff der Regierung auf die Rechte der Frauen. Sie wollen den Frauen die Errungenschaften nehmen, die sie in jahrelangem Kampf erzielt haben. Insbesondere die kurdische Frauenbewegung steht unter großem Druck. Die Gewalt gegen Frauen hat zugenommen. Weil Frauen Gleichheit und Freiheit wollen, weil sie nicht ruhig in ihren Häusern sitzen. Es gibt viele verschiedene Angriffe gegen Frauen, wir denken jedoch, dass es wichtig ist, auch die Macht der Frauen gegen diese Angriffe zu erkennen. 

„Wir wollen nicht Iran oder Afghanistan werden“, hat Canan Güllü gesagt, die Vorsitzende des Verbandes der Frauenvereine in der Türkei. Hat der Kampf der iranischen Frauen die Bewegung in der Türkei beeinflusst?

Iclal Ayse Küçükkirca: Canan Güllü bringt die Sorgen vieler Frauen in der Türkei zum Ausdruck. Die Türkei und der Iran sind Grenznachbarn. Frauen in der Türkei sind bereits seit vielen Jahren auf der Straße und führen einen ununterbrochenen Kampf. „Jin Jiyan Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit), den Slogan, der mit den Jina-Amini-Protesten weltweit verbreitet wurde, verwendet die kurdische Frauenbewegung in der Türkei seit den 90er Jahren.  

Was sind die größten Erfolge der Bewegung?

Handan Çaglayan: Ihre größte Errungenschaft besteht darin, dass Frauen gelernt haben, die ihnen zugewiesenen Rollen in Familie und Staatspolitik abzulehnen. Es sind nicht nur die Aktivistinnen oder Feministinnen der Frauenbewegung. Frauen aus allen sozialen Schichten und Bildungsniveaus im ganzen Land wollen gleichberechtigt, frei und in einer Weise leben, die der Menschenwürde entspricht. Sie unterwerfen sich nicht. Sie drängen Männer, Familie, Gesellschaft, politische Institutionen und den Staat zu Veränderungen.  

Wie groß ist denn der Einfluss der Frauenbewegungen auf die Gesellschaft heute?

Iclal Ayse Küçükkirca: Die Frauenbewegung hat Frauen beeinflusst, gestärkt und verändert, auch wenn sie nicht die gesamte Gesellschaft beeinflusst hat. Männer widersetzen sich den Veränderungen, und der immer autoritärer werdende Staat versucht, die Autorität der Männer zu stärken. Tatsächlich ist der Einfluss der Frauenbewegung auf die Gesellschaft aber beträchtlich. Die Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsleben, all das war überhaupt nicht einfach. Aber niemand kann Frauen heute mehr sagen, sie sollen einfach zu Hause bleiben und sich nur um ihre Kinder kümmern. 

Interview: Vera Görgen 

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Quelle: https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/januar-2024/nr-2418