Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

Ganz normale Kolonisatoren? Gewalt während der territorialen Festigung des britischen Company-State in Bengalen

Dissertationsprojekt von Jannes Thode

Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit dem Wandel der Gewaltstrukturen nach der Schlacht von Palasi 1757 und der darauffolgenden Übertragung der Diwani 1765 durch Shah Alam II. an die East India Company (EIC). Durch diese Übertragung, welche die EIC als Gestattung territorialen Besitzes auslegte, änderte sich die Rolle der EIC auf dem indischen Subkontinent. Zunehmend wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der EIC noch um eine Handelsgesellschaft handelte oder ob sie vordergründig als politischer Akteur auftrat und wie diese beiden Positionen miteinander vereinbar seien. 

Diesem Wandel soll in Bezug auf die Auslegung, wer Gewalt ausüben darf, wer von Gewalt wie betroffen ist und welche Gewaltpraktiken sich veränderten und welche neu entstanden, näher untersucht werden. Ein Fokus liegt dabei auf alltäglichen Gewaltausübungen, die durchaus in gerichtlichen Prozessen verhandelt wurden, aber in den meisten Fällen keinen gerichtliche Verfolgung erfuhren. Über den Begriff der "Gewaltatmosphäre" versuche ich den Wandel auf struktureller Ebene aufzuzeigen. Wenn wir Calcutta als Zentrum des territorialen Company-State verstehen, wäre beispielsweise eine Frage, wie sich für verschiedene Subjekte der alltägliche Gang durch die Stadt veränderte. Wer wurde als Gefahr wahrgenommen? Wer fühlte sich unsicher? Wer war von Gewalt bedroht? Aber auch: Wie wurde Gewalt ausgeübt?

In philosophischen Debatten wird die Frage der Gewalt an die Frage der Souveränität geknüpft. Der deutsche Gewaltbegriff zeigt diese starke Verbindung auf, da sich in ihm sowohl violentia (physische Gewaltausübung) als auch postestas (das Recht, Gewalt auszuüben) vereinen. Im 18. Jahrhundert kann noch nicht von einem staatlichen Gewaltmonopol gesprochen werden, da Herrscher ihre Macht an verschiedene Akteure abgaben. Die EIC bekam durch die Charter 1600, die zwar zeitlich begrenzt war, aber in den folgenden Jahren immer wieder erneuert und verändert wurde, nicht nur das Recht auf das Monopol über den gesamten Handel östlich des Kaps der guten Hoffnung bis zur Magellanstraße, sondern konnte ihre Handelinteresse verteidigen, indem ihr das Recht zugestanden wurde, Kriege zu führen oder in ihren Handelsstützpunkten Zivil- und Strafgerichte zu verwalten: Rechte, die in heutiger Zeit lediglich dem Staat gestattet sind. Zugleich traf die EIC auf bereits bestehende Herrschaftsstrukturen, denen sie sich fügen musste, um effektiv Handel treiben zu können. Sie musste sich gegen andere europäische Akteure behaupten und war dabei auf die Gunst der Mughalherrscher angewiesen, die sich selbst gegenüber anderen lokalen Akteuren durchsetzen und ihre Herrschaft legitimieren mussten.

Dieser Streit um Legitimität zwischen den verschiedenen Akteuren äußerte sich auch auf der Ebene der alltäglichen Gewaltausübung und soll den Ausgangspunkt für die nähere Untersuchung der sich wandelnden Gewaltpraktiken bilden. Ein weiteres Ziel der Arbeit ist, neben einer genauen Darstellung der Gewaltpraktiken und der sie ermöglichenden Gewaltstrukturen, eine Kritik an gegenwärtigen Diskussionen zu Gewalt zu formulieren, da sich diese stark an dem weberischen Staatsbegriffs als Gewaltmonopol orientieren. Über eine Analyse zu dem Verhältnis von Staat und Gewalt im territorialen Company-State nach 1757 und dem Verhältnis von Formen enger Gewalt (konkrete Gewalthandlungen) und Formen weiter Gewalt (diskursive, strukturelle oder symbolischer Gewalt) soll das Verständnis von Gewalt hinterfragt und geweitet werden.

Das Promotionsvorhaben steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von der DFG geförderten Langfristprojekt Modernes Indien in deutschen Archiven (MIDA). Neben britischen und indischen Archiven sollen daher auch deutsche Archivbestände als Quellen dienen, um die Gewaltatmosphäre zu analysieren. Deutsche Quellen können dabei bereichernd sein, da sie einen außenstehenden Blick ermöglichen, wobei nicht vergessen werden darf, dass deutsche Akteure auf dem indischen Subkontinent eigene Interessen verfolgten.

 

Jannes Thode studierte im Anschluss an den Kombinationsbachelor Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin im Masterstudiengang Philosophie mit Schwerpunkt Erkenntnis- und Ideologietheorie, den er im Mai 2023 mit der Masterarbeit zum Thema: „Hoffende Subjekte. Althusser und der Hoffnungsdiskurs der analytischen Philosophie“ abgeschlossen hat. Neben dem Masterstudiengang begann er 2019 noch einen Monobachelor Regionalwissenschaften Asien/Afrika mit dem Fokus auf Südasien. Seit 2024 arbeitet Jannes Thode als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungsprojekt MIDA (Modernes Indien in deutschen Archiven).