Aus den Interviews
"Für mich haben die Ereignisse des 20. Januar schon etwas früher begonnen - mit dem Zwischenfall in der Stadt, der als 'Armenierpogrom' bekannt geworden ist. Auch diesen Pogromen hat sich nicht die Regierung entgegengestellt, sondern das Volk selber, die Volksfront. Und zweifellos haben die Moskauer Büros der Spezialdienste das alles inszeniert; denn ein Drehbuch wie dieses konnte hier niemand in die Realität umsetzen außer denen. Siebzig Jahre haben wir der Sowjetmacht als Sklaven gedient; aber erst in jenen Tagen haben wir ihr scheußliches wahres Gesicht nackt und bloß gesehen. (...) Am Abend des 19. Januar um 20 Uhr muss es gewesen sein, wir hatten uns alle an der Biläcäri-Straße unweit der Fabrik 'Iskra' versammelt. Mein verstorbener Bruder war auch mit uns. Es hieß, möglicherweise würden die Soldaten der Sowjetarmee mit Gummigeschoßen auf die Leute schießen, aber alle dachten, das Militär wird die Leute nicht angreifen. Dort beim Streikposten hatten sie ein Lagerfeuer angemacht und wir saßen rundherum. Kurz vor Mitternacht sahen wir plötzlich, dass aus Richtung der Salyan-Kaserne ein Panzer herankam. Dann ein zweiter, und als er vom Tbilisi-Prospekt in die Suvorovstraße einbog, schoss er Leuchtraketen ab und machte sich davon. Danach tauchten Panzer auf, einer nach dem anderen. Zur gleichen Zeit erschienen völlig unerwartet vom nahe gelegenen Prospekt her zwischen den Alleebäumen Soldaten und begannen die versammelten Leute niederzumachen. Ehrlich gesagt, ich glaubte zuerst nicht, dass die Geschosse, die sie benutzen, scharfe Munition sein könnten. Aber als einer von den jungen Männern in meiner Nähe am Knie getroffen wurde, blutüberströmt, da kapierte ich, das war echte Munition. Einen anderen verletzte ein Geschoss am Arm... Und dann sah ich, wie Panzer ein Auto der Marke Zhiguli verfolgten. Das Auto kam an eine Seitengasse und blieb stehen, der Fahrer sprang heraus und machte sich schnell davon, aber die Panzer überrollten das Fahrzeug (es waren fünf Panzer). Einer von den Jungs schmiss einen Stein nach einem Panzer, und da schossen sie eine Salve in unserer Richtung... Ja, und zuvor hatte ich noch gesehen, wie aus dem bekannten sechzehnstöckigen Hochhaus dort ein wenig weiter vorn jemand einen Molotowcocktail herunterwarf, und die Soldaten ließen einen Kugelhagel los in die Richtung, dann hörte das auf, keine Ahnung wie es ausgegangen ist... Auf jeden Fall war die Versammlung in Auflösung, Tote gab es, Verletzte. Ich sagte zu den Bekannten und Freunden rund um mich, kommt, hauen wir hier ab, denn das Militär ist jetzt in der Stadt und es hat keinen Sinn sich dagegen zu stellen, wir können da nichts mehr tun. So sagte ich und dann suchte ich Ilham, meinen Bruder, damit wir miteinander abhauen. Ich fragte die Leute dort nach ihm, sie sagten, der ist bestimmt auf der anderen Straßenseite drüben; die Panzer waren ja doch gekommen und hatten die Versammlung auseinandergetrieben, hierhin die einen und dorthin die anderen, und die Leute hatten sich in beide Richtungen verteilt. Wie ich auch suchte, dort und da und überall, ich fand meinen Bruder nicht. War der nämlich einer von den ersten gewesen, den sie erschossen haben. Als man hörte, dass von der Salyan-Kaserne her die Panzer kommen, sagte da einer, ich geh dort hin und komme den Leuten dort zu Hilfe. Ilham ging auch mit. Als sie in aller Eile an den Platz der 11. Roten Armee kamen, prallten sie dort mit den Panzern zusammen. Ilham blieb stehen vor einem Panzer, Hände hoch, nicht schießen, haltet ein! Sofort schossen sie aus ihren Maschinengewehren auf ihn, zwei Kugeln haben ihn getroffen. Aber er ließ sich nicht kleinkriegen, er sagte zu den Jungs neben ihm, diese Kugeln machen mir nichts, keine Sorge. (Er war auch wirklich groß und kräftig. Er hatte bei der Armee in der geheimen Raketentruppe gedient.) Auf jeden Fall, als ihn die Kugeln trafen, drehte er durch, er zündete einen Brandsatz und ging auf den Panzer los. Und als er wieder so auf die Panzer losging, da trafen sie ihn mit einem TSHK-Panzerabwehrgeschoß mitten in den Leib. Das heißt, da blieb keine Stelle heil an ihm. Ich habe mich mit dem Arzt unterhalten, der ihn operiert hatte; der sagte, es gab keine Hoffnung für ihn, aber sein Körper war so stark und kräftig, dass er bis 5 Uhr früh dem Tod Widerstand geleistet hat und allen diesen schrecklichen Verletzungen.Ich habe ihn nicht lebend wiedergesehen..." (Elxan Äjdäroglu Allahverdiyev, geb. 1957, Bautechniker)
"Am 14. Januar saß ich in meinem Kiosk. Es war schon Abend, die Lichter in unserer Gegend waren schon ausgegangen. Plötzlich kamen zwei von unseren Nachbarn und brachten die Nachricht, dass ein Autobus in unser Viertel gekommen sei, und darin seien die Armenier. Ich sagte, das kann nicht sein, das wagen die Armenier nicht, die können nicht hierher kommen.(...) Wir gingen nach unten und sahen, das waren keine Armenier oder so; nach ihren eigenen Worten waren sie von der Volksfront. (Aber ich glaubte nicht, dass sie Volksfront-Leute sein könnten; im Grunde genommen sahen sie irgendwelchen Einheimischen, das heißt Leuten aus Baku, überhaupt nicht ähnlich.) Ich fragte: 'Wer ist euer Chef?' Einer meldete sich. Ich fragte ihn: 'Warum seid ihr hierher gekommen?' Er antwortete: 'Wir kommen, damit wir die Armenier aussiedeln und ihre Wohnungen räumen.' Ich entgegnete, das ginge nicht, nein, in unserem Haus und unserem Viertel läuft so etwas nicht; das lassen wir nicht zu. Ich sah, dass hinter dem Autobus ein Polizeiauto stand, und darin saß der Polizeichef unseres Bezirks. Ich ging zu ihm hin und fragte: 'Wer sind diese Leute, warum sind die mit euch hergekommen?' Er sagte, sie würden die Armenier mitnehmen. 'Wohin?', sagte ich. Er antwortete: 'Zuerst holen wir sie im Shäfäq-Kino zusammen, und dann werden wir sie registrieren und nach Häshtärxana oder sonst irgendwo hin auf den Weg bringen.' Ich wendete ein: 'Ja aber, die Polizei seid schließlich ihr, warum erledigt ihr diese Sache nicht selber? Wenn diese Typen jetzt den Armeniern etwas antun - ich bin hier der Viertelsälteste -, dann lass ich sie hier draußen allesamt niedermachen. Wir lassen nicht zu, dass es so kommt, wie Sie gesagt haben.' Er sagte mir, aber die Armenier müssten unbedingt zum Kino geschafft werden, aber sie machen ihre Türen nicht auf, die haben alle bewehrte Eisentüren. Ich sagte: 'Das muss auf ordentliche Weise durchgeführt werden. Lassen Sie den Autobus da zur Seite fahren, dann gehe ich und werde die Armenier einen nach dem anderen in den Bus setzen, dann könnt ihr sie mitnehmen. Und eine Bedingung: Wenn ihr hier einen Armenier anfasst, wenn ihr einen Stein werft, dann prügeln wir euch selber durch.' - So kamen wir also überein, und ich ging zu den Armeniern. Als erstes ging ich zu Olya Sarkisyan, unserer Nachbarin von gegenüber. Sie war eine alte Frau, alleinstehend. Ich ging und klopfte bei ihr an, 'Tante Olya, mach auf', sagte ich. Sie antwortete: 'Ich habe Angst.' Ich sagte: 'Glauben Sie mir, ich verspreche Ihnen, niemand wird Sie anrühren.' Da öffnete sie mir die Tür. Ich redete ihr zu: 'Tante Olya, es ist nichts mehr anders zu machen, die wollen euch von hier an einen sicheren Ort schaffen; die sind hinter euch her, und wenn Sie jetzt nicht mit mir gehen, werden die euch mit Gewalt abtransportieren. Ich weiß nicht, wer die sind, aber die könnten mit euch machen was sie wollen, aber sie hören auf uns, also kommen Sie, wir bringen Sie friedlich auf den Weg.' Sie sah die Lage ein. So führte ich sie selber eigenhändig hinaus, ließ sie ins Auto des Polizeichefs einsteigen und sagte zum Polizeichef: 'Das ist eine alte Frau, die musst du persönlich weggeleiten und dort hinbringen.' Und siehe da, so klopfte ich bei jedem von den Nachbarn und sagte ihnen: 'Was Sie an Wertsachen haben, das nehmen Sie mit, denn diese Leute werden euch aus Baku abtransportieren.' Ich riet ihnen auch, warme Sachen mitzunehmen. Ja, sie riefen noch einen weiteren Autobus, und dann brachten sie die Armenier weg. Der Polizeichef allen voran, und sie hinten drein. Aber ein wenig später sahen wir, dass genau dieser Trupp, der da im Autobus angekommen war, erst recht die Wohnungen zu überfallen vorhatten; wir kamen noch zurecht und konnten es verhindern. Wir sagten: 'Also Leute, habt doch ein wenig Gewissen, die sind gerade erst heute von hier weg, wer weiß, vielleicht schickt man sie vom Shäfäq-Kino ja wieder zurück, vielleicht gehen sie ja nicht weg.' Kurzum, unsere Gemeinde hier ließ nicht zu, dass sie die Wohnungen (der Armenier) plünderten. Nachdem wir den Trupp vertrieben hatten, wählten wir aus unserem Viertel vier, fünf Mann aus, dass sie reihum hier Wache halten sollten. Wissen Sie, wir dachten echt, morgen könnten diese (Armenier) wieder zurückkommen, und warum sollten wir uns dann vor ihnen schämen müssen?! Nachdem die Armenierpogrome in der Stadt zu einem Ende gekommen waren, dachten wir, jetzt würde sich die Lage ein wenig beruhigen; aber nein, ganz im Gegenteil, die Lage wurde immer noch angespannter. ...Am 19. Januar, so ungefähr um 6 Uhr abends, ging ich in der Nähe von uns dorthin, wo eine Barrikade war. (Das war neben dem einzigen 16stöckigen Gebäude, das es damals in der Stadt gab.) Ich glaubte zwar von Anfang an nicht, dass die Bevölkerung die Panzer würde aufhalten können, das konnte ich mir gar nicht vorstellen, aber trotzdem ging ich hin. (...)" (Quliev Xoshqädäm Cäbrayiloglu, geb. 1948, Händler)
"... Jetzt hieß es für uns, die Trauerfeier für meinen Vater auszurichten. Aber in unserem Viertel, das heißt in der Nähe der Salyan-Kaserne, wo unser Haus steht, schossen sie auch noch in den Tagen und Wochen nach dem 20. Januar, etwa zwei Monate lang. Die Soldaten, die Scharfschützen nahmen jeden Tag die Häuser und die Leute unter Beschuss. Bald wurde das Feuer heftiger, bald gab es nur einzelne Schüsse. Damals ging das Gerücht um, dass in diesem Militärbezirk interne Vorfälle - das heißt zwischen azärbajdschanischen und russischen Soldaten - passiert wären und unter diesen Leuten Schießereien laufen würden. Wir wissen nicht, was da später draus geworden ist. Schau, in jenen Tagen gingen wir sogar in die Küche, um den Trauergästen Tee aufzugießen, nur voller Angst, denn diese Seite wurde ständig beschossen. Wir verhängten die Fenster mit Decken, denn die Scharfschützen schossen immer dorthin, von wo Licht kam. Auch wenn wir in diesen zwei Monaten in den Hof hinunter oder Brot einkaufen gingen, hatten wir ständig Angst. (Erst im Februar erschossen die Soldaten wieder bei unserem Haus einen Taxifahrer.) Ein paar Tage später zeigten uns die Nachbarn, wo mein Vater erschossen wurde. Meine Schwester und ich gingen hin und weinten uns richtig aus. Da lachte der Scharfschütze, der dort auf dem Dach oben stand, zu uns herunter. Meine Schwester und ich fingen an, zu ihm hinaufzuschreien, und wir hoben Steine und Dreck auf und warfen sie in seine Richtung. Meine Schwester verwünschte ihn: 'Wart nur, deiner Mutter soll auch deine Leiche beschieden sein!' Und da fing dieses Vieh an auf uns zu schießen. Die Leute im Hof versuchten uns wegzuzerren; ein junger Mann wurde an der Ferse von einer Kugel getroffen. Das Gesicht dieses Scharfschützen kann ich nicht vergessen. Der war kein normaler Soldat, und auch sein Alter passte nicht (er war 35-40 Jahre alt), und er trug auch nicht die entsprechende Kleidung. Ehrlich, er sah einem brutalen Mörder ähnlich... Diese Soldaten hatten wir schon im November und Dezember 1989 gesehen. Damals kümmerten wir uns um die Soldaten, die bei uns Wache standen; wir brachten ihnen heißen Tee, Kaffee und gaben ihnen etwas zu essen. Manche kamen sogar zwischen der Schicht und ruhten sich bei uns im Haus aus. Da war einer, der hatte seine Verlobte in Rußland zurückgelassen, der telefonierte oft von uns aus mit seiner Braut (natürlich auf unsere Rechnung)... Damals hatten wir so nette Beziehungen zu diesen Soldaten. Und mein Bruder war damals ja auch in Rußland beim Militärdienst; da sagte mein Vater oft, schau mein Kind, unser Sohn steht jetzt bestimmt auch irgendwo Posten so wie die da... Ich kann für die blutige Tragödie unseres Volkes nicht der Roten Armee allein die Schuld geben. Man muss auch die Leute, die heute in führenden Positionen sitzen und damals Kommunisten waren, als mit schuldig an der Tragödie betrachten. Außerdem gab es damals solche verhängnisvollen Anführer, die das Volk aufhetzten, die die Leute vor die Kugeln und Panzer schickten. Einer von denen ist Ne'mät Pänahov. Ich weiß genau, dieser Mann hat damals wissentlich mit aller Kraft bis zum letzten Augenblick verhindert, dass die Leute auseinander gegangen wären und sich vor dem Militär zurückzogen. Er ging hin und sagte, bleibt noch ein wenig, wir bringen euch Waffen, wir müssen das russische Heer am Vorankommen hindern. Schau, bis heute hat niemand diesem Menschen etwas getan, keiner hat ihn zur Verantwortung gezogen. Warum? - Also, das verstehe ich nicht..." (Qocamanova Maral Äliyyusif qizi, geb. 1963, Bautechnikerin, Hausfrau)