Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Asien- und Afrikawissenschaften

BVG, Baklava, Berghain: Was gehört zum Kulturerbe berlins?

Ein zweisemestriges Projekttutorium (SS 20 - WS 20/21) gefördert von der AG Projekttutorien an der Humboldt-Universität zu Berlin, geleitet von Fiona Katherine Smith

Forschungsfragen

Was ist Kulturerbe? Was gehört zum Kulturerbe Berlins? Wie wird Kulturerbe in Berlin von verschiedenen Akteur*innen verstanden? Wer führt den Diskurs zum Kulturerbe? Für wen ist dieses Erbe – und für wen nicht? Welche hegemonialen Diskurse gibt es dazu, wer führt sie und wer kommt darin nicht zu Wort? Gibt es Widerstand gegen diese hegemonialen Diskurse? Wie ist Kulturerbe mit Kosmopolitismus und Multikulturalismus verknüpft?

Zwischenbericht

Teilnahme und Arbeitsleistung

Das erste Semester des interdisziplinären Projekttutoriums ‚BVG, Baklava, Berghain: Was gehört zum Kulturerbe Berlins?‘ fand im Sommersemester 2020 an dem Lehr- und Forschungsbereich Transregionale Zentralasien des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften digital statt. Teilnehmer*innen aus verschiedenen Fachrichtungen erworben durch regelmäßige Teilnahme und die Verschriftlichung von kommentierten Schlüsselzitaten 3 Leistungspunkte. Im Rahmen des Aufbaumoduls Kultur/Identität konnten Studierende der Bachelorstudiengang Regionalstudien Asien/Afrika zusätzlich dazu eine Teilleistung für diesen Modul erwerben. Es gab im Projekttutorium eine regelmäßige Teilnahme von ca. 7-10 Studierenden. Nicht nur Studierende der Regionalstudien nahmen daran teil, sondern auch Studierende der Kulturwissenschaften, Deutschen Literaturwissenschaften, Europäischen Ethnologie, Kunstgeschichte, und Grundschulpädagogik. Die Mehrheit der Teilnehmer*innen war trotzdem vom IAAW.

Verlauf

Im Sommersemester 2020 fand die erste Phase des Projekttutoriums digital statt. Für ein digitales Semester war nicht geplant und der Lehrplan musste daher ziemlich schnell umgestellt werden. Das Ziel war, ein vertieftes Verständnis von den regionalwissenschaftlichen Debatten um den Begriff ‚Kulturerbe‘ zu schaffen. Leitfragen wie „Für wen ist dieses Erbe gedacht?“, „Wem gehört Kulturerbe?“, und „Wie wird Kulturerbe bestimmt?“ wurden im Laufe des Semesters diskutiert. Machtverhältnisse innerhalb der kulturerblichen Industrie wurden kritisch hinterfragt und die Teilnehmer*innen konnten deren eigenen Fallstudien einarbeiten. Durch das Prinzip des Peer-Learnings konnten Studierende mit Vorkenntnissen mit den anderen deren Wissen teilen, und die verschiedenen Fachrichtungen haben eine Methodenvielfalt erbracht.

Die Gruppe hat sich einmal pro Woche über Zoom getroffen. Das Seminar wurde in 5 Blöcke aufgeteilt. Zur ersten Block wurde kulturerbliche Stätte in Berlin und die Macht der Repräsentation angeschaut unter die Frage ‚Wem gehört die Stadt?‘. Im zweiten Block wurde Kulturerbe als Infrastruktur mit Hilfe der kritischen Raumtheorie untersucht. Im dritten Block wurde Kulturerbe als nationalistischer Objekte betrachtet und die affektive Macht innerhalb der kulturerblichen Debatten diskutiert. Im vierten Block waren Beispiele des immateriellen Kulturerbes z.B. pamirischer Tanz aus Tadschikistan und Berliner Dialekt präsentiert. Im finalen Block haben die Teilnehmer*innen ihren eigenen Fallstudien zu einem Beispiel Berliner Kulturerbes in Gruppen präsentiert.

Die ausgewählten Seminarlektüren erregten in jeder Sitzung eine spannende Diskussion. Obwohl das Projekttutorium sich auf Berlin konzentriert, bot es wegen den verschiedenen regionalen Schwerpunkten der Teilnehmer*innen (Zentralasien, Südasien, Südostasien, Osteuropa) sich an, die sozio-politische Lage in mehreren Ländern anzuschauen. Dadurch erreichte das Projekttutorium einen (jedoch begrenzten) multiperspektiven Blick auf das Kulturerbe im globalen Kontext.

Ergebnisse

Kulturerbe ist das Erbe physischer Artefakte und immaterielle Eigenschaften einer Gruppe oder Gesellschaft, die von mehreren Generationen geerbt wurden. Nicht alle Hinterlassenschaften vergangener Generationen sind ‚Erbe‘; vielmehr ist das Erbe ein Produkt der Auswahl einer Gesellschaft.

So wurde Kulturerbe innerhalb der Gruppe definiert. Berlin erlebt seit Jahren ein Gentrifizierungsprozess, indem mehrere PoC-Familien durch Mieterhöhungen verdrängt und Hausprojekte oft mit Gewalt zwangsgeräumt werden. Als Objekt nimmt Kulturerbe Raum in der Stadt. Wenn es ein Kampf um Raum gibt, werden solche Orte bestritten und der Anspruch ihrer Gruppen bedroht. In Berlin wird das ‚typische Berlinische‘ oft als Brandenburger Tor oder Fernsehturm verstanden und bewahrt, während andere kulturerbliche Räume nicht gefördert werden. Z.B. steht die Berliner Klubkultur aktuell in Gefahr und wird nicht großartig von dem Staat unterstützt. Auch vor der Pandemie wurden den Mietvertrag des KitKatKlubs gekündigt und die Veranstalter mussten nach anderen möglichen Lokalen suchen, oft am Rand der Stadt und nicht in dem zentralen Heinrich-Heine-Block, der saniert wird. Wenn eine Straße saniert wird, wird die Miete dort großzügig erhöht. Durch eine Sanierung werden auch Teile Kulturerbe abgewischt oder abgerissen, weil die Gruppen, zu denen das Kulturerbe gehört, oft ignoriert werden.

Es gibt Hierarchien innerhalb dem Kulturerbediskus. Eurozentristische Vorstellungen des Orients fördern ein exotisiertes Blick auf nicht-europäische Kulturgüter. Infolge dazu wird Kulturerbe aus nicht-westlichen Teilen der Erde vereinfacht und verallgemeinert und das ‚Typische‘ wird zum Zweck des Tourismus bevorzugt (Winter 2014). Gleichzeitig werden Menschen, zu denen das Kulturerbe gehört, oft vergessen und deren Anspruch und Stimme ignoriert. Im europäischen Kontext folgt es dazu, dass Kulturerbe whitewashed wird und Diasporagruppen und People of Colour keinen Anspruch darauf haben dürfen (Hall 1999).

Die Rolle des Nationalismus soll hier deutlich ausgedruckt. Kulturerbe als Objekte ermöglichen eine Verbindung mit der Vergangenheit (Bräunlein 2012). Erinnerungen, die die Nation als stark darstellen, wie z.B. Zeiten von ökonomischer Aufschwung oder imperialer Macht, sollten bewahrt und Objekte, die die Nation schlecht darstellen, sollten vergessen werden. Kulturerbe ist also durch Liebe geprägt. Liebe schafft ein ideales Bild von der Nation und Bürger können sich damit identifizieren und ihre Gruppenbildung darauf richten (Ahmed 2014). Kulturerbliche Objekte haben eine affektive Macht und sollten dementsprechend bewahrt, genau wie die Nation.

Das problematische bezüglich Liebe für die deutsche Nation hat der deutsche Rockband Rammstein in seinem Lied ‚Deutschland‘ (2019) sehr gut zusammengefasst:

„Deutschland! Dein Herz in Flammen

Will dich lieben und verdammen

Deutschland! Mein Atem kalt

So jung und doch so alt

Deutschland! Deine Liebe

Ist Fluch und Segen

Deutschland! Meine Liebe

Kann ich dir nicht geben“

Hier beschreibt der Interpret Till Liedermann die Ambivalenz zwischen Zugehörigkeit der deutschen Nation und Verbot des Nationalismus. Mit einer sehr kritischen Stimme fasst der Interpret also die Problematik der deutschen Nationalidentität gut zusammen: so eine Identität ist aus Liebe für eine grausame Zeit der Geschichte geprägt.

Feedback und Reflektion

Das Feedback am Ende des Semesters war sehr positiv. Die Teilnehmer*innen fanden den Inhalt des Unterrichts sehr spannend und waren mit dem erworbenen Wissen zufrieden. Auch durch die kommentierten Schlüsselzitate konnte es gesehen werden, dass die Teilnehmer*innen die Lektüreaufgaben gut verstanden haben und sich kritisch mit den Begriffen Heritage, Infrastruktur, Raum, Liebe, usw. auseinandergesetzt. Die Gruppenpräsentationen haben  Fälle wie Bänke Berlin, Spätis, Flughafen Tempelhof und KitKatKlub sehr gut dargestellt und kritisch untersucht. Die KitKatKlub-Gruppe hat sogar ein Kurzfilm gedreht und dies wird am Anfang des nächsten Semesters gezeigt, damit die neue Teilnehmer*innen sich orientieren können.

Obwohl eine digitale Lehrveranstaltung nicht geplant war, konnte das Lehrformat sehr gut umgewandelt werden. Diskussionen konnten trotz ferne problemlos stattfinden und alle Lehrmaterialien konnten über Moodle an den Teilnehmer*innen verteilt. Bei der Präsentationen kam es aber oft zu technischen Schwierigkeiten, ins besondere, wenn jemand eine schlechte WLAN-Verbindung hatte. Trotzdem war fast jede Sitzung sehr angenehm und die Teilnehmer*innen waren mit dem Format zufrieden. 

Nächste Schritte

In der zweiten Phase werden die Teilnehmer*innen nach einer kurzen Einführung in die visuelle Anthropologie aufgefordert, Mini-Projekte zu einem Beispiel Berliner Kulturerbe zu erschaffen. Die Teilnehmer*innen sollen ein Beispiel selber auswählen und dieses als Objekt forschen. Mit Hilfe der visuellen Anthropologie werden die Objekte aufgenommen und die Sammlung wird innerhalb einer Ausstellung am Ende des Semesters präsentiert. Falls die Pandemie bis dahin eine Ausstellung nicht ermöglicht, wird eine digitale Sammlung im Form eines Blogs online hochgeladen.

Literaturverzeichnis

Ahmed, Sara. Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edinburgh University Press. 2014.

Bräunlein, Peter J. ‘Material Turn’. In Dinge Des Wissens. Die Sammlungen, Museen Und Gärten Der Universität Göttingen, edited by Georg-August-Universität Göttingen, 30–44. Göttingen: Wallstein Verlag, 2012.

Hall, Stuart. ‘Cultural Identity and Diaspora’. In Theorizing Diaspora: A Reader, edited by Jana Evans Braziel and Anita Mannur, 233–46. Malden, MA: Blackwell Publishing, 2003.

Rammstein. ‘Deutschland.’ In Deutschland. Universal Music: 2019.

Winter, Tim. ‘Beyond Eurocentrism? Heritage Conservation and the Politics of Difference’. International Journal of Heritage Studies 20, no. 2 (17 February 2014): 123–37.

Kontakt

Fiona Katherine Smith, B.A. (Tutorin)

fiona.katherine.smith (at) hu-berlin.de